Nachdem ich nun eine Woche in der Wohnung einer Bekannten verbracht hatte, war mein Zimmer in meiner neuen WG frei. Ich konnte meinen Umzug beenden, oder so glaubte ich zumindest. Ich begann damit, alle im Hausflur unter der Treppe verstauten Sachen in mein neues Zimmer zu bringen. Auch das Sofa, welches technisch gesehen nicht mir gehörte, holte ich von seinem Stellplatz in mein neues Zimmer. Meine neue Mitbewohnerin half mir dabei. Das ganze Unterfangen dauerte länger als ich ursprünglich erwartet hatte. Ich besaß zu viel Zeug.
Nun, da ich mein Hab und Gut in "Sicherheit" gebracht hatte, war mein nächstes Ziel den Schrank aufzubauen. Irgendetwas hatte vor nun knapp eineinhalb Wochen nicht so funktioniert, wie es sollte. Der Schrank war ein einfaches Stecksystem, welches am Ende mit nur vier Schrauben stabil gehalten wurde, doch die Teile wollten nicht so zusammenpassen, wie gewünscht. Es dauerte ein paar Minuten bis ich erkannte, dass ich die Mittelwand mit dem Kopfende nach unten eingebaut hatte. Das war schon alles. Mit der Hilfe meiner neuen Mitbewohnerin konnte ich den Schrank in wenigen Minuten neu zusammensetzen und aufbauen. Alles was noch fehlte waren die Schrauben. Diese hatte ich, anders als alle anderen Schrauben meiner Möbel, nicht in einer Tüte in meine Werkzeugkiste gelegt, sondern in eine der Schubladen im Unterteil des Schranks. Ich nahm sie heraus. Um die Schrauben wirklich festdrehen zu können benötigte ich noch den passenden Inbusschlüssel. Diesen hatte ich nicht, wie all mein anderes Werkzeug, in meiner Werkzeugkiste untergebracht, sondern in dem Koffer des Akkuschraubers. Warum hatte ich das alles so sehr verteilt? Ich nahm den Koffer des Akkuschraubers, öffnete ihn und hielt für einen Moment inne. Wo war der Akkuschrauber? Ich sah mich im Raum um. Kisten, Beutel, mein Reiserucksack, das Sofa, Matratze und Lattenrost an der Wand lehnend, der Sessel, mittendrin der Schrank. Mein Blick wanderte zum Koffer zurück. Der Ersatzakku und das Ladegerät waren noch dort und die Inbusschlüssel auch. Den Koffer selbst konnte ich vor eineinhalb Wochen in der Wohnung lassen. Er stand im halb aufgebauten Schrank. Doch wo war der Akkuschrauber? Ich erinnerte mich daran, wie ich bei der alten Wohnung den Schuhständer auseinandergeschraubt und den Akkuschrauber dazu benutzt hatte. Offensichtlich hatte ich ihn nicht zurück in den Koffer gelegt und jetzt galt er als vermisst. Doch wieso hatte ich ihn nicht zurück in den Koffer gelegt? Wohin hatte ich ihn stattdessen gepackt? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich wollte im Werkzeugkoffer nachsehen, ob ich ihn dort hinein gelegt hatte und nach zwei Runden durch mein neues Zimmer wurde mir klar, dass die Werkzeugkiste nicht mehr da war. Dann wurde mir etwas Weiteres bewusst. Ich ließ Arme und Schultern hängen, neigte Kopf in Richtung Decke und ließ einen Seufzer von mir. Der Akkuschrauber konnte immer noch in einer der anderen Kisten sein, aber der Rest war weg. Kein Zollstock, kein Schraubendreher, keine Wasserwaage, keine Inbusschlüssel, außer den beiden im Koffer, keine Schraubenschlüssel, kein Hammer, kein Maßband, keine Zange. Doch was mir am meisten fehlen würde, waren die Schrauben und Dübel für den Schreibtisch und die Regale. Diese speziellen Schrauben für die Möbel von diesem einen großen schwedischen Möbelunternehmen. Ich ließ das für einen Augenblick ruhen nahm den passenden Inbusschlüssel aus dem Koffer und drehte die Schrauben in den Schrank. Dann schob ich den Schrank an die Wand, um mehr Bewegungsfreiheit in meinem neuen Zimmer zu haben. Ich brachte etwas mehr Ordnung in das Chaos, indem ich alle Kisten aufeinander stapelte. Damit hatte ich zugleich Platz für den Lattenrost und die Matratze geschaffen, also legte ich beides in der Reihenfolge auf den Boden. Zumindest wusste ich, wo ich in der nächsten Nacht schlafen würde. Das Sofa wurde an die Wand geschoben und auf ihm wahllos Dinge abgelegt. Dinge, die noch keinen Platz hatten. Dinge, die womöglich niemals einen Platz finden würden. Ich besaß zu viel Zeug.
Ich nahm mir eine kurze Auszeit und trank ein Glas Wasser. Dann begann ich die Kisten zu durchsuchen. Systematisch, damit ich den Überblick nicht verlieren würde, stellte ich alle Kisten nebeneinander und öffnete sie eine nach der anderen. Meine Verluste waren zahlreich:
- eine Posterrolle, in der sich mehrere A2 Papierbögen befanden, auf denen ich meinen Stammbaum aufgezeichnet hatte
- ein Stativ
- der halbe Inhalt meiner Hygieneartikelbox, in der sich nicht nur das Abschiedsgeschenk meines alten Arbeitsplatzes befand, sondern auch einige Medikamente
- eine Tastatur
- eine Maus
- einen 3in1-Drucker
- zwei Lautsprecherboxenpaare
- diverse Mehrfachstecker
- die Werkzeugkiste, natürlich
- die Kanne des Wasserkochers; ja, der Untersatz war noch da
- der Untersatz meines Mixers; ja, alle Aufsätze dafür waren noch da
- mehrere Bücher
- ein Sofakissen
- ein Schlafkissen
- meine blaue Lieblingsüberdecke
- ein alter Laptop, dessen Bildschirm nur noch zu einem Fünftel funktionierte und aus dessen Tastatur Teile herausgebrochen waren
- einige andere Dinge, von denen mir bisher noch nicht klar war, dass sie auch fehlen
Vom Akkuschrauber keine Spur, dafür fand ich meinen Toaster, welchen ich schon abgeschrieben hatte. Der Wischmopeimer hielt eine besondere Überraschung für mich, den Jutebeutel, und in einem Schuhkarton fand ich auch die Brötchen und die angefangenen Packungen mit Aufschnitten und Aufstrichen wieder. Ich packte den Schuhkarton zu den Dingen, die keinen Platz mehr finden würden. Im weiteren Verlauf des Tages holte ich noch meine restlichen Sachen ab. Das E-Piano aus dem Keller der Nachbarn, und meinen Computer, Monitor und Schreibtischstuhl von einem meiner Umzugshelfer. Ich war erschöpft und der Tag schon lange vorbei, als ich entschied mich ins Bett zu legen. Bevor ich einschlief hatte ich noch einen Gedanken: Ich besaß zu viel Zeug.
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