Am Wochenende besuchte ich zwei Personen außerhalb Berlins. Ich kam in ihrer Wohnung an und zog die Schuhe aus. Während ich mich vom Flur ins Wohnzimmer begab, sagte eine der Personen: "Hm, ich
hole mir noch einen Negerkuss. Wollt ihr auch einen?".
Ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte. Verschiedene Gedanken sprangen durch meinen Kopf. Ich sagte: "Negerkuss? Wirklich? Das ist das Wort, das du benutzt?".
Die Ereignisse in meinem Kopf überschlugen sich. Ich hatte einen langen Tag hinter mir und die letzte Nacht hatte nicht genügend Schlaf gebracht. Ich war verwirrt und überrascht. Ich hatte nicht
damit gerechnet dieses Wort hier und/oder von dieser Person zu hören.
"Ja, wieso nicht?", sagte die Person. Da war keine Reue in ihrer Stimme, nichts, was in irgendeiner Form andeutete, dass gerade ein falsches Wort benutzt oder irgendeine Art von Fehler begangen
wurde. Es war eine selbstsichere Aussage, erhaben über jeden Zweifel.
Ich war unsicher, wie ich reagieren sollte, also begann ich meine Sachen abzulegen und sagte: "Ähm ...".
"Ich kenne das so aus meiner Kindheit und da wird sich auch nie etwas dran ändern.", fuhr sie fort und verließ dabei den Raum, um sich einen Negerkuss zu holen.
Nach ihrer Rückkehr unterhielten wir uns zu dritt darüber, welche Begriffe heute Anstelle von "Negerkuss" benutzt wurden. Die Unterhaltung änderte nichts an der Einstellung der Person und es war
tatsächlich nur eine Unterhaltung. Die Diskussion in der ich meinen Standpunkt normalerweise verteidigte, kam nicht zustande. Auch hatte ich meinen Standpunkt überhaupt nicht dargestellt.
Scheinbar war meine Entschlossenheit gebrochen. Wie war das passiert? Sollte es wirklich so einfach gewesen sein?
Jahre zuvor hatte ich beschlossen, dass ich solche und ähnliche Begriffe nicht mehr in meinem Umfeld tolerieren würde. Mein Vorhaben war es diese Personen damit zu konfrontieren, mit ihnen
darüber zu sprechen und ihnen klarzumachen, warum es falsch war. Doch nicht nur das, ich wollte auch nichts mehr mit Personen zu tun haben, die solche Begriffe weiterhin benutzten. Ich wollte sie
aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis ausschließen. Es sollte auch nicht reichen, wenn die betreffenden Personen sagten, sie würden die Begriffe nicht mehr in meinem Beisein benutzen. Das würde
ja nichts an der grundsätzlichen Verwendung ändern. Dann würden sich die Personen nur verstellen, mich quasi belügen, weil sie mir etwas vorspielen würden. So etwas wollte ich nicht mehr in
meiner Umgebung. Wenn das bedeuten würde, dass ich alte Freunde, gute Bekannte und/oder andere Personen, welche mir sehr am Herzen lagen, verlieren würde, dann wäre das ein Teil davon gewesen.
Doch was war hier passiert? Wollte ich den Frieden der Situation nicht stören? Ließ mich das schweigen? War ich zuvor nie auf ungetrübte Selbstverständlichkeit getroffen? Sorgte dies für meine
Sprachlosigkeit?
Auch ich kannte den Begriff noch aus meiner Kindheit, und andere Begriffe. Nicht nur aus meiner Kindheit, auch aus meiner Jugend und meinem Erwachsenenalter. Erst vor einem halben Jahr stand ich
bei einem Bäcker und neben mir waren zwei über 70 Jahre alte Personen. Die eine sagt zu der anderen Person: "Guck mal, wir können uns auch noch ein paar Negerküsse holen.", dann sah sie zu mir
rüber, grinste leicht und nickte mir dann, mit freundlichem Gesichtsausdruck, zu. Kannten diese Personen den Begriff auch aus ihrer Kindheit? Was sollte in der Kindheit zukünftiger Kinder
geschehen? In dieser Situation, vor einem halben Jahr, hatte ich klargestellt, dass ich unzufrieden war. Ich hatte den Kopf geschüttelt und mich angewidert abgewandt. Das war eventuell nicht die
konfrontativste oder effektivste Reaktion, doch hatte ich meinen Standpunkt klar gemacht und mich den Personen gegenüber distanziert. Am Wochenende hingegen hatte ich mich nicht distanziert. Im
Gegenteil. Wir unterhielten uns noch eine Weile zu dritt. Ich bot der Person sogar an, dass sie bei mir übernachten könne, sollte sie in Berlin sein und einen Schlafplatz benötigen. Wie konnte
das sein? Es war nicht in Ordnung. Ich hatte meine Prinzipien über Bord geworfen.
Drei Tage später beschäftigte es mich noch immer und ich beschloss noch einmal mit der Person zu sprechen. Ich beschloss auch, unter Umständen, mein Übernachtungsangebot zurückzuziehen und
jeglichen Kontakt abzubrechen.
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