Der vierte Tag

Es war der vierte Tag meines vierten Nichtrauchertums. Nicht mehr zu rauchen fühlte sich gut an. Ich vermisste es immer noch, doch das gute Gefühl dieses Laster hinter mir gelassen zu haben war stärker. Es war Samstag und ich hatte nicht viel vor. A-Hörnchen* hatte mir gesagt, dass B-Hörnchen* an diesem Wochenende nach Berlin kommen würde. Ich kannte beide noch aus meiner Schulzeit. Mit A-Hörnchen hatte ich vor ein paar Wochen wieder Kontakt aufgenommen und wir hatten uns schon ein paarmal getroffen. B-Hörnchen hatte ich vier oder fünf Jahre lang nicht gesehen. Der Tag verging ohne nennenswerte Ereignisse und ich traf mich abends mit A-Hörnchen und B-Hörnchen. Wir wollten uns später noch mit der Fremden*, A-Hörnchens ehemaliger Mitbewohnerin, und ihrem Tinderdate* treffen, aber zunächst waren wir nur zu dritt. Zuerst versuchten wir in eine Bar zu gehen, doch der Rauch biss so unangenehm in meinen Rachen und meine Lunge, dass ich nicht dort bleiben konnte. Wir entschieden uns zunächst zu A-Hörnchen zu gehen. Dort saßen wir dann in der Küche, tranken Wein und unterhielten uns. Es lag eine angenehme Stimmung in der Luft, man hätte fast behaupten können, es wäre so wie früher gewesen.
Nach ein paar Stunden meldete sich die Fremde und wir brachen auf. Eine Taxifahrt später befanden wir uns in einer Mischung aus Bar, Kneipe und Disko. Es gab keine ersichtliche Tanzfläche und doch war die Musik so laut, dass man sich anschreien musste. Es wurde hier auch geraucht, doch die Luft war erstaunlich frisch. Ich konnte also bleiben. Die Fremde und Tinderdate hatten zwei Plätze an der Bar und wir stellten uns dazu. Die Beiden unterhielten sich untereinander auf Englisch, mit uns Neuankömmlingen jedoch Neuankömmlingen auf Deutsch. Komisch. Ich verwarf meine Zweifel und bestellte eine Runde Schnaps. Wir stießen alle an und versuchten uns zu unterhalten. Für eine Weile funktionierte das ganz gut, obwohl ich nur jedes zweite Wort verstand.
Die Fremde erzählte eine Geschichte und benutzte das Wort "Negerkussbrötchen". Eine Woche. Eine Woche war seit dem letzten Vorfall vergangen. Doch hatte ich wirklich richtig verstanden, was gesagt worden war? Es war dort sehr laut und manchmal verhört man sich. Ich sah die Fremde an. Nein, ich hatte mich nicht verhört. Sie fing schon an irgendwelche Erklärungen und Ausdrücke des Bedauerns vorzutragen. Es wurde panisch nach Ersatzbegriffen gesucht. A-Hörnchen und B-Hörnchen schalteten sich ein und schlugen Begriffe wie "Schaumkuss" und "Schokokuss" vor. Ich stand da. Es war klar, dass ich sauer war. Ich sagte etwas. Ich versuchte es jedenfalls. Gleichzeitig fragte ich mich, was das überhaupt sein sollte, dieses Negerkussbrötchen. War es tatsächlich genau das, ein Brötchen mit Negerkuss belegt? Oder war es ein mir völlig unbekanntes Gebäck? Vielleicht ein Berliner, der mit Nougat oder Schokoladencreme gefüllt ist? Eventuell auch der mit Schokoladenglasur überzogene Amerikaner von dem mir einige Tage zuvor erzählt wurde? Ach nein, der hieß ja schon Afrikaner.
Die Diskussion vor mir war noch im Gange. Ich konnte ihr nicht mehr wirklich folgen. Tinderdate saß da und schwieg. Soweit ich mich erinnern kann, hatte er kein einziges Wort gesagt. Clever. A-Hörnchen und B-Hörchnen und die Fremde versuchten eine Reaktion von mir zu bekommen. Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Ich sagte: "Ich werde jetzt etwas sagen. Ich werde mehrere Dinge sagen. Ich möchte, dass ihr einfach zuhört und mich ausreden lasst ohne mich zu unterbrechen. In Ordnung?".
Meinem Wunsch wurde zugestimmt.
Ich sagte: "Ja, das hat mich verletzt. Ja, ich bin sauer. Ja, das war nicht in Ordnung.", an A-Hörnchen und B-Hörnchen gerichtet: "Ja, ich weiß nicht, wie ihr zu der ganzen Sache steht.", wieder an alle gerichtet: "Ja, ich werde dazu jetzt nichts weiter sagen. Ja, ich werde mich jetzt nicht erklären. Ja, ich werde jetzt gehen.".
Während die Anderen wieder begannen zu reden, zog ich mich an, nahm meine Tasche und ging. Was sie gesagt hatten? Keine Ahnung. Ich hatte nicht zugehört. Ich ging die Straße hinunter zur nächsten U-Bahn-Station. Ich wollte nach Hause fahren. Ich wollte mir noch Alkohol kaufen und mich so richtig betrinken und dann eine Zigarette rauchen. Eine Wutzigarette. Ich stieg in die erste Bahn ein und während ich auf den Plan schaute, wurde mir klar, dass ich nicht darauf geachtet hatte, in welche Richtung die Bahn fuhr. In die falsche natürlich. Ich stieg an der nächsten Haltestelle aus und musste eine gefühlte halbe Ewigkeit warten. Ich nahm mir vor einige Flaschen Bier zu kaufen. Vier oder fünf Flaschen sollten ausreichen, um mich so richtig aus der Realität zu schießen. So dachte ich jedenfalls. Zum Abschluss wollte ich eine Zigarette rauchen. Eine Wutzigarette. Die Bahn kam und ich fuhr mit ihr in die richtige Richtung. An der Ringbahnstation Treptower Park stieg ich aus, um in die Ringbahn umzusteigen. Ich durfte ein weiteres Mal eine gefühlte halbe Ewigkeit warten. Ich überlegte mir, dass Bier eventuell doch ein wenig schwach sein könnte. Es war auch schon spät in der Nacht. Den Sonnenaufgang wollte ich nicht miterleben. Die Erlebnisse sollten nicht mit in den neuen Tag kommen. Ich stieg gedanklich von Bier auf Schnaps um. Whisky sollte es werden. Whisky würde mich retten. So glaubte ich jedenfalls. Zum Abschluss wollte ich eine Zigarette rauchen. Eine Wutzigarette. Die Ringbahn kam und ich stieg ein. Ich sah aus dem Fenster und merkte, dass ich ich gerade an der Station Berlin-Neukölln war. Ich fuhr schon wieder in die falsche Richtung. An der Station Hermannstraße stieg ich aus und durfte zehn Minuten auf die nächste Bahn warten. Eine gefühlte halbe Ewigkeit. Ich dachte über den Whisky nach. Ich wollte nicht komisch werden oder komische Dinge tun, und manchmal passierte das, wenn man zuviel Whisky trinkt. Ich schwenkte auf Wein um. "Eine Flasche Wein könnte ich schnell trinken, würde schnell noch betrunkener werden und vor Sonnenaufgang schlafen.", argumentiertre ich im inneren Dialog mit mir selbst. Der Wein würde mir gut tun. So hoffte ich jedenfalls. Zum Abschluss wollte ich eine Zigarette rauchen. Eine Wutzigarette. Ich stieg in die Bahn ein und fuhr zu meiner Station. Beim Kiosk um die Ecke kaufte ich eine Flasche Wein und ging nach Hause. Ich setzte mich in die Küche und während ich den Wein trank, sah ich mir Videos auf Youtube an. Ich trank schnell. Der Tag sollte endlich zu Ende sein.
Ich wachte am nächsten Morgen in meinem Bett auf. Ich hatte nicht geraucht. Es war der vierte Tag meines vierten Nichtrauchertums und ich hatte ihn überstanden.
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*Name von der "Redaktion" geändert